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So viel Freude, so viel Wut, so nah beieinander!

Aktualisiert: 4. Sept.


Das Buch von Nora Imlau "So viel Freude so viel Wut" auf meinem Schreibtisch, mit ganz vielen Lesezeichen und einem Bleistift drin. Liegt mit einer Ecke über der Tastataur. Am Rand noch ein Stück meiner schönen japanischen Teetasse.

Weil die Situationen, die Nora Imlau in "Soviel Freude, so viel Wut", beschreibt, uns allen soo bekannt sind - egal ob unser Kind nun besonders gefühlsstark oder einfach nur manchmal gefühlsstark ist. Zum Beispiel, wenn unser Kind auf dem Heimweg, der dummerweise an der Eisdiele vorbeiführt, unbedingt ein Eis haben möchte, aber keins bekommt und darauf mit lautstarkem Gebrüll, auf-den-Boden-werfen, verzweifeltem Weinen, Schluchzen ... reagiert - kommentiert von netten "mitfühlenden" Passanten mit guten Ratschlägen ....

Manchen passiert das ab und zu, wenn das Kind vielleicht nicht ausgeschlafen ist oder andere Stressfaktoren dazu kommen. Eltern gefühlsstarker Kinder müssen aber ständig damit rechnen. Und gerade sie können schon mal den Sekt kalt stellen! Denn sie sind es vor allem, die Stärkung brauchen und hier gibt es sie!

Was ist denn ein gefühlsstarkes Kind?

Die Zukunft mit ihrem Kind malen sich werdende Eltern als eine friedliche und entspannte Zeit voller Zärtlichkeit und Harmonie aus. Doch bei einigen kommt es anders. Ihr Kind reagiert schon als Baby sehr empfindlich auf Unregelmäßigkeiten, weint viel und lässt sich nur direkt am Körper beruhigen. Später rastet es bei jeder Kleinigkeit aus, schreit, duldet keine Abweichung oder erträgt im Gegenteil keine Wiederholung. Zu dem eigenen inneren Druck, den jede Mutter und jeder Vater empfindet, wenn das eigene Kind offensichtlich so in Not ist, dass es weint und schreit, gesellen sich bald die Bemerkungen des unbeteiligten (oft kinderlosen) Publikums: „Haben Sie das Kind nicht im Griff?“, „... Konsequenzen spüren lassen ...“ und „... kleine Tyrannen heranziehen...“, sind noch die netteren Ausdrücke, die sie sich anhören müssen.

"Gefühlsstark" soll laut Imlau nicht eine weitere Schublade neben"High need" oder "Hochbegabt", etc. sein. Jedes Kind ist mehr oder weniger gefühlsstark. Nur manche sind es eben praktisch immer und stellen damit wirklich eine besondere Herausforderung für die Eltern dar. So dass die Eltern sich schließlich selbst fragen, was sie falsch gemacht haben könnten und sich als Versager fühlen. Dabei spüren sie sehr wohl auch, dass ihre Kinder keine Tyrannen sind, denn das würde ja voraussetzen, dass sie anders können, es aber nicht tun.

Fakten oder Warum sie sind wie sie sind

"„Stopp“, möchte ich all diesen Eltern zurufen. Haltet dieses selbstzerstörerische Gedankenkarussell an, hört auf, euch mit der Suche nach dem einen entscheidenden Fehler zu quälen und die Verantwortung bei euch zu suchen! .... Ihr seid nicht schuld“, schreibt Imlau, denn "Gefühlsstärke ist ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal."Jerome Kagan, ein US-amerikanischer Persönlichkeitsforscher konnte zeigen, dass sich Babys im Alter von vier Monaten zuverlässig einem Grundtemperament zuordnen lassen. 20 Prozent aller Babys sind „hoch reaktiv“. Ungeheuer reizoffen und sensibel können sie mit Stress nur schlecht umgehen und weinen deshalb viel mehr als andere. Gleichzeitig sind sie besonders aktiv und neugierig und haben ein unglaubliches Durchhaltevermögen.

Ein paar Fakten können helfen zu verstehen, warum sie sind, wie sind: Das schnell überreizbare Temperament rührt von einer besonders empfindlichen Amygdala - das ist jener älteste Teil im Gehirn des Menschen, der in Notsituationen aktiv wird und die Leitung übernimmt. Nachdenken und Entscheiden sind dann unmöglich: es gibt nur noch Angriff oder Flucht. Und bei Babies und kleinen Kindern, die bei beidem auf Hilfe angewiesen sind, bedeutet das: Panik und Brüllen. Das heißt aber auch: die Kinder tun nicht nur so als sei jede Kleinigkeit eine Katastrophe: ihr Gehirn signalisiert ihnen: ES IST EINE KATASTROPHE! Im Klartext bedeutet das: Eltern, ihr könnt nichts dafür, ihr seid nicht schuld! Diese hohe Reaktivität, der hohe Stresspegel ist offensichtlich angeboren. Das Gehirn dieser Kinder funktioniert einfach ein kleines bisschen anders als das anderer Kinder. Und - anders heißt hier zwar anstrengend - aber nicht schlecht.

Und wie beruhigt man das Kind nun wieder?

Wenn Worte und Erklärungen das Kind nicht mehr erreichen und Selbstregulationsstrategien nicht funktionieren, egal wie gut sie eingeübt wurden, hilft nur eins: Durch nonverbale Kommunikation in Kontakt treten. Wichtigster Mitspieler sind dabei die Spiegelneuronen. Denn die laufen in solchen Paniksituationen auf Hochtouren und sorgen dafür, dass das Kind die Emotionen seines Gegenübers genauso stark fühlt wie seine eigenen. Das Kind reagiert intuitiv auf die Körpersprache einer vertrauten Bezugsperson. Das bedeutet, dass ein ruhiges Gegenüber Gelassenheit, Halt und Sicherheit ausstrahlt und das zentrale Nervensystem dazu anregt, tiefer zu atmen, die Muskeln zu entspannen, locker zu lassen und sich nach und nach zu beruhigen.

Und je öfter das gelingt, umso eher lernt der kindliche Körper die Mechanismen der Selbstregulation kennen und beherrschen. Selbstregulation ist nämlich kein Lern- sondern ein Reifeprozess. Der braucht seine Zeit und ist wie bei allen Reifeprozessen individuell sehr unterschiedlich schnell.

Wie man selbst ruhig bleiben kann

Nur eine Frage bleibt dann noch: wie schafft man es eigentlich selbst ruhig zu bleiben, wenn das eigene Kind die ganze Straßenbahn zusammenbrüllt, weil Oma das Toastbrot für unterwegs falsch durchgeschnitten hat?

Meist wirken hier zwei Dinge zusammen: einmal die Blicke von außen, die Erwartungen, die wir an uns selbst stellen und die unbewussten Erinnerungen an unsere eigene Kindheit, in der die meisten von uns sich wohl nicht getraut hätten, so lautstark etwas einzufordern. Und warum nicht? Die meisten wurden mit psychischem Druck und/oder Erpressung manipuliert: wenn du jetzt nicht, dann ... . Ich lasse dich hier allein ... Ich nehm dich nie mehr mit ,... oder ähnliches. Und das hat Stress und Angst erzeugt.


„Dass wir mit unseren gefühlsstarken Kindern immer wieder die Geduld verlieren, liegt nicht primär an ihrem Verhalten an sich, sondern an unseren eignen Erwartungen daran, was ein Kind in diesem Alter kann und dementsprechend mit Absicht nicht tut, wenn es sich schlecht benimmt.“, schreibt Nora Imlau und trifft damit den Punkt: Wir haben ein Bild davon, wie Kinder sein sollten: in dem Bild kommen auch die Kinder der Freunde oder Nachbarn vor, die vielleicht völlig entspannt sind in Situationen, in denen das eigene ausrastet. Da kommt auch unser kluges, verständiges Kind vor, das in gelassenen Momenten schon so viel versteht und auch sprachlich auf den Punkt bringen kann. Da spielen Ratgeber mit, die sagen, in welchem Alter ein Kind über die sogenannte Selbstregulationsfähigkeit verfügen sollte... Die Erwartungen an das, was das Kind schon können sollte, machen alles schlimmer.

Immer übersehen wird dabei, dass genau diese Selbstregulationsfähigkeit Ergebnis eines lebenslang andauernden Reifeprozesses ist, der sich nicht durch Druck beschleunigen lässt.

Was wirklich hilft, ist eine etwas andere Sicht darauf, was unsere Aufgabe als Eltern dabei ist:

Wenn unser Kind gerade eine Katastrophe durchlebt, ist es nicht unser Job es ruhig zu bekommen. - Das erhöht nur den Druck auf uns als Eltern und das Kind. Unsere Aufgabe ist einzig und allein: da zu sein. Und mit unserem ganzen Körper zu signalisieren, dass da keine Katastrophe ist. - „Entscheidend ist, dass wir Verständnis haben, und zwar sowohl mit unserem Kind als auch mit uns selbst...“ Und dann passiert oft etwas Erstaunliches: Das Kind wird mit der Zeit ruhiger und sucht den Blickkontakt.

Das Geheimnis glücklicher Eltern-Kind-Beziehungen

So gelingt auch, den Kindern zu zeigen, dass sie so wie sie sind, in Ordnung sind - und nicht reparaturbedürftig, wie ein kaputtes Radio.„Das Geheimnis glücklicher Eltern-Kind-Beziehungen", schreibt Imlau: "Vor der Veränderung steht das Verständnis.“

Und für alle, denen es gerade schwer fällt, das Positive in einem Kind zu sehen, mit dem unterwegs zu sein sich manchmal anfühlt als habe man eine hochexplosive Bombe in der Tasche, für die hat Nora Imlau immer wieder kleine Erfolgsstories eingebaut: Kurzbiografien von Jane Goodall, Mayim Bialik (Darstellerin von Amy in „Big Bang Theory“), Steve Jobs, Astrid Lindgren oder Albert Einstein, die ebenfalls extrem anstrengende gefühlsstarke Kinder waren. - Dank ihrer Besonderheit und der rückhaltlosen Unterstützung ihrer Eltern sind sie im Leben so stark und erfolgreich geworden. Na das macht doch Mut, oder?

So - das ist nur ein Argumentationsstrang aus diesem extrem praxisorientierten und, wie ich finde, unglaublich wichtigen Buch - für alle Eltern, die manchmal am verzweifeln sind - obwohl oder gerade weil sie ihre anstrengenden Kinder so lieben.

Besorgt euch das Buch, versinkt darin, genießt es - denn es ist wahrhaft Balsam für die Seele.

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