Über Mut und Vorsicht. Über Wut und Ausrasten.
Zu vorsichtig und schüchtern der oder die Eine, zu impulsiv oder aggressiv die oder der Andere. Es gibt viele Verhaltensweisen von Kindern, die wir als Eltern als problematisch ansehen, die aber auch die Kinder schon als Problem empfinden. Entweder weil sie einfach auch gerne genau das machen würden, was sie sich nicht trauen (zum Beispiel alleine Fahrrad fahren - oder bei einem Freund übernachten) oder weil sie es eigentlich hassen, die Kontrolle so sehr zu verlieren, dass am Ende vielleicht alle über sie lachen.
Hier geht es im
Der Eine kann „eigentlich“ Fahrradfahren, aber nur, wenn er den Finger eines Erwachsenen im Rücken spürt. Die andere will nicht malen, weil sie das, was sie malt „nicht gut“ findet. Und beide rasten schon bei kleinen Missgeschicken aus. Sie will nicht mehr ausmalen, weil sie mal „über den Strich“ gemalt hat. Sie willen keine Tiere frei malen, weil sie das nicht kann. Er will nirgendwo alleine hin gehen, weil er unter ein Auto geraten könnte. So die Problemlage bei meinem letzten thematischen Elternabend, bei dem "Probleme in Fähigkeiten verwandeln" auf dem Programm stand.
Aus Schüchternheit wird Mut
Ich fragte dann mal, wozu dieses vorsichtige Verhalten denn gut sein könnte. In welchem Rahmen könnte gerade dieses Verhalten nützlich sein? Und wir kamen im Gespräch schnell darauf: ein Arzt, ein Richter, ein Anwalt, sie alle müssen sehr vorsichtig sein: jedes Für und Wider gut abwägen. Ein Fehler könnte ein Leben kosten. Könnte ein Leben nachhaltig zerstören. Bei ihnen schätzen wir, das sie erst nachdenken und dann handeln. Gut ist das vorsichtige Verhalten auch, weil man sicher sein kann, dass das Kind nicht unbedacht auf die Straße rennen wird, es wird nichts essen, was es nicht kennt. Und es wird nicht voreilig einem Angebot zustimmen, das es nicht gut geprüft hat. Eine Eigenschaft, von der eine der Mütter sagte, sie wünsche sich selbst manchmal so eine Hartnäckigkeit erst zu prüfen. Außerdem fanden alle ganz toll, dass die Kinder sich nicht durch Druck umstimmen lassen. Sie spüren zwar, dass die Eltern es gerne hätten, wenn sie etwas bestimmtes tun würden, aber sie tun es trotzdem nicht. Während wir als Eltern oft den Druck nicht aushalten und dann um des lieben Friedens willen etwas tun, wozu wir nicht wirklich stehen, was wir nicht in Ruhe geprüft haben – weil wir uns einfach nicht getraut haben, uns die Zeit zu nehmen, die wir einfach brauchen. Die Kinder nehmen sich die Zeit die sie brauchen.
Den Mut haben, sich die Zeit zu nehmen, die man braucht
Es war ein spürbares Aufatmen, eine fast greifbare Erleichterung im Raum – als die Eltern zum ersten Mal vielleicht spürten, dass ihr Kind in Ordnung ist – auch wenn es nicht in die gängigen Schablonen passt. Und das konnte ich den Eltern auch gleich mal zurückmelden: „Ich habe das Gefühl, es tut euch allen sehr gut, dass euer Kind anerkannt wird, mit dem was es mitbringt – so wie es eben ist: klug, vorausschauend, nicht einfach alles hinnehmend.“ Das sollten wir vielleicht unserem Sohn auch einmal so sagen, meinte dann eine der Mütter: damit er nicht immer das Gefühl hat, dass er falsch sei. „Ich bin jetzt richtig stolz auf meine Tochter“, sagte eine andere. "Ich hatte auch immer Angst vor dem Turnen, aber ich habe mich nicht getraut, nein zu sagen."
Vom Umgang mit Druck
Wir waren jetzt bei dem großen Thema: wie gehe ich mit Druck um? angekommen. Und da kamen einige sehr interessante Geschichten der Eltern ans Licht. „Ich hatte da lange nicht mehr dran gedacht“, erzählte eine Mutter, „aber ich kann mich erinnern, dass ich als Kind Angst hatte von der Rutsche zu rutschen, wenn so eine lange Schlange hinter mir stand das nächste Kind anfing zu schubsen und „los, mach schon“, zu sagen. „Ich wollte immer selbst entscheiden können“, wann der richtige Zeitpunkt ist. Genau: so ist es nämlich beim Malen und beim Fahrradfahren und beim Alleine-Irgendwohin-Gehen auch: entweder man ist groß und entscheidet, wann man damit anfängt, oder man ist klein und kann es eben nicht. Alleine die Tatsache, dass die Eltern sich entspannen und sagen: du bist vorsichtig und vorausschauend, du achtest auf kleinste Details – das ist sehr wichtig und sehr klug. Und deshalb kann ich dir vertrauen, dass du all das, was ich von dir möchte, genau dann tun wirst, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. An den entspannten Gesichtern der Eltern konnte ich sehen, wie gut ihnen dieser Gedankengang gefiel. Sie spürten schon im Voraus, wie sehr ihre Kinder durch diesen Vertrauensvorschuss wachsen würden.
Pläne machen, Fantasieren und genau hinsehen
Und wenn das bei deinem Kind angekommen ist, und es sich immer noch nicht traut, dann könnt ihr ja zusammen mal darüber sprechen, wie es sein wird, wenn sie/er es endlich tun kann. Was dann gemeinsam möglich ist, was dann anders sein wird. Einfach mal fantasieren. Wenn Felix* das dann kann, dann machen wir... , Opa wird dann sagen „...“ und die Leah* wird sich freuen, weil. Und so weiter.
Und dann können wir ein Plakat basteln auf dem für jedes Mal „geschafft“ ein kleiner mutiger Löwe aufgestempelt wird. Einfach damit Felix* sieht, dass er es auch eigentlich schon kann. – Das ist kein Lob – denn wir wollen ihn nicht konditionieren. Das ist ein Zeichen dafür, dass es gesehen wird. Und dass er selbst es besser sehen kann.
Aus Wut und Ausrasten wird Gelassenheit
Wie aber ist das mit der "Wut" oder dem "Ausrasten"? Auch hier meine Frage: wozu ist die Wut gut? Nun, nach meiner Erfahrung ist Wut eine Art sich abzugrenzen, wenn es anders nicht gelingt. Und wenn Grenzen lange und oft überschritten werden, ohne dass das Kind es eigentlich merkt, dann bricht sich eine Art Selbstschutz auf diese Art Bahn. Manchmal ist das Verhalten, das sich dann zeigt bei anderen abgeschaut. Manchmal kommt es aber auch einfach so. Oft bei Kindern, die sonst super "funktionieren", die scheinbar "alles im Griff" haben. - Dann zeigt sich, dass genau das zwar toll ist, aber sozusagen im inneren Haushalt viel Energie kostet. Und die ist irgendwann aufgebraucht. Dann hilft alles nicht mehr und der Körper übernimmt die Regie. Hinterher ist es doppelt peinlich, erstens so die Kontrolle verloren zu haben. Und dann aber auch, weil irgendwie der Ruf als der/die Kluge, Vernünftige, Sanfte, Verständige, ... ruiniert wird.
"Du kannst das doch sonst so gut!"
"Ich dachte immer, du bist so entspannt.",
"Warum machst du das, das bringt doch nichts?"
sind dabei noch die netteren Fragen, die nichts besser machen, den Druck aber noch erhöhen.
Was aber könnte helfen? Auch hier habe ich gute Erfahrungen mit dem Programm von Ben Fuhrman gemacht. Wir schauen mal nach Beispielen, für Menschen oder Tiere, die mit solchen Situationen super klar kommen, ohne auszurasten. Das kann ein Elefant sein, den die Maus nicht stört, die an sein Bein pinkelt, das kann die Schildkröte sein, die sich einfach in ihren Panzer zurück zieht. Das kann ein Astronaut sein, der sich seinen Helm über zieht, ... egal. Die Kinder haben selbst ihre Ideen und sind oft super überraschend und manchmal schlicht und logisch. Wichtig ist, dass die Idee oder das Bild von dem Kind selbst kommen muss. Und dann geht es ans üben.
Was wäre wenn....?
Was wäre, wenn du die Elefantenfähigkeit hättest?, fragen wir dann zum Beispiel? Was wäre dann anders? Wie würden die anderen in der Klasse reagieren? Was würden Papa oder Mama sagen? Was die Oma? Was würdest du selbst von dir halten?
Gibt es Beispiele, wo du diese Fähigkeit schon mal eingesetzt hast?
Könntest du dir vorstellen, das mal zu üben?
Und dann fangen wir an. Erstes Highlight: einmal geschafft.
Besser noch klappt das, wenn wir die Lehrerin oder den Lehrer mit ins Boot holen. Kira möchte die Elefantenfähigkeit lernen und nicht mehr sofort ausrasten, wenn ... Könnten sie das beobachten, wenn es ihr gelingt einmal stattdessen ... keine Ahnung, was der Elefant macht, wenn er geärgert wird. Vielleicht gähnt er demonstrativ? Aber ich bin sicher Kira weiß das. Und dann bekommt Kira einen Stempel in ihr Elefantenheft. Nicht als Belohnung sondern als Erinnerung, dass sie es geschafft hat. Und damit sie es am Ende des Tages immer noch hat und mit Mama und Papa teilen kann, wie genau und bei welcher Gelegenheit sie es einmal geschafft hat.
Jede Verhaltensänderung fängt nämlich mit dem ersten kleinen kleinen Schritt an (Tiny steps). Und am nächsten Tag sind es vielleicht schon zwei. Und damit genau doppelt so viele.
Wenn ein Verhalten schon länger nicht so läuft wie es soll, dann macht es sogar Sinn die ganze Klasse einzubinden. Kira sucht sich einen Unterstützer oder eine Unterstützerin in der Klasse. Diejenige darf sie dann immer erinnern, wenn sie es zu vergessen droht.
Am Ende steht eine kleine Feier, denn die ganze Klasse freut sich vielleicht, wenn sie nicht immer unterbrochen wird, sobald Kira ausrastet und eine viertel Stunde brüllt. Und dann darf Kira das, was sie gelernt hat einem anderen Kind beibringen. Cool oder?
PS: Die 15 Schritte des "Ich schaffs"-Programms von Ben Furmann noch mal einzeln und Schritt für Schritt beschrieben (Zusammen mit Literaturangeben) als PDF zum runterladen findest du hier.
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